Am einem Donnerstag im Juli 2014 sind 298 Menschen per Flugzeug unterwegs nach Kuala Lumpur, 283 Passagiere (darunter 80 Kinder) und 15 Besatzungsmitglieder. Die Maschine ist mittags in Amsterdam gestartet und soll nach rund 12 Stunden Flug in der malaysischen Hauptstadt landen. Die Mehrheit der Passagiere (192) sind Niederländer, aber auch Australier, Malaysier und Indonesier fliegen mit Flug MH 17 nach KL (ausführlich beim hier verlinkten Wikipedia-Beitrag). Vier Deutsche sind ebenfalls unter den Passagieren. Nach knapp drei Stunden Flug, gegen 14.20 Uhr MESZ, verschwindet die Maschine über der Ostukraine aus über 10.000 Meter Höhe von den Radarschirmen. Sie ist von einer Boden-Luft-Rakete russischer Bauart abgeschossen worden, wie sich später herausstellt. Die Streumunition der Rakete hat das Flugzeug durchsiebt. Es ist der 17. Juli, der 60. Geburtstag von Kanzlerin Angela Merkel. Die geplante Feier fällt aus.
(Das Aufmacherfoto einer B747 ist im Februar 2005 auf dem Flughafen Kuala Lumpur entstanden, RJ)
In der Aufarbeitung der Schuldfrage, wie es sein kann, dass an einem Sommertag 2014 ein vollbesetztes Passagierflugzeug in Europa abgeschossen wird, spielen Investigatoren und Bürgerjournalisten eine Rolle, die mit Mitteln des Internets Lügen und Leugnungen entlarven. Es ist die Geburtsstunde der Plattform Bellingcat, die sich zu einem Investigativ-Instrument mit hoher Reputation entwickelt hat: in den Methoden transparent, in der Arbeit öffentlich und non-profit.
Hinter der Webseite steht ein Kollektiv von Forschern und Bürgerjournalisten, welche die Möglichkeiten der Open Source-Recherche zu Tätern und Taten nutzen. Alle hinterlassen vielfältige Spuren im Netz. Besser beschreibt es mein Chat-Kumpel:

Bellingcat ist eine gemeinschaftliche Plattform, die Open-Source-Forschung und investigativen Journalismus betreibt. Die Organisation verwendet eine Vielzahl von Methoden und Werkzeugen, um ihre Untersuchungen durchzuführen, darunter Crowdsourcing, Datenanalyse, Social-Media-Monitoring und Geo-Tagging.
Die Arbeitsweise von Bellingcat ist durch die Verwendung von offenen Quellen gekennzeichnet. Das bedeutet, dass sie sich nicht auf geheime oder nicht zugängliche Informationen verlassen, sondern sich auf frei verfügbare Quellen im Internet wie soziale Medien, Satellitenbilder, Videos und Nachrichtenberichte stützen.
Bellingcat sammelt Informationen von verschiedenen Quellen und analysiert sie, um Fakten zu identifizieren und Zusammenhänge herzustellen. Die Ergebnisse werden dann in Berichten und Analysen zusammengefasst, die für Journalisten und die Öffentlichkeit zugänglich sind.
Eindrucksvoll ist das wieder am Beispiel der jüngsten Massenerschießung in den USA gezeigt geworden. Wie zuvor beim Spionagefall eines Airforce-Angestellten in Massachusetts, so konnten die Investigatoren von Bellingcat auch beim Massenmord in einem Einkaufszentrum nahe Dallas/Texas aufschlussreiche Spuren und Zeitleisten des Täters belegen. Beim Fall in Dallas fand Bellingcat die Neo-Nazi-Orientierung des Täters auf einer russischen Chat-Seite heraus.
Sogar für den Krieg in der Ukraine kann Bellingcat interessante Recherchen aufweisen und mediale Manipulationen nachweisen, zumal der Krieg auch im Netz geführt wird. Zum Abschuss von MH17 finden sich auf Bellingcat eine ganze Reihe von Recherchen zu Ablauf und Verantwortlichen für die Tragödie. Sie setzen deren Leugnungen Fakten und Belege entgegen.
Der Abschuss einer Passagiermaschine über einem europäischen Land zu Beginn des Krieges in der Ostukraine (und nach der Besetzung der Krim) im Sommer 2014, und die fast 300 Opfer aus einem Dutzend Länder, markieren einen Wendepunkt. Das Verständnis von „everlasting peace“ nach der Katastrophe von 1939-1945 war schon damals für immer vorbei. Oder hätte es sein sollen, denn tatsächlich schauten wir alle weg – Politik und Öffentlichkeit gleichermaßen. Der Bau einer zweiten Gaspipeline durch die Ostsee ging erst richtig los. Zudem beschäftigten uns andere Themen (Euro-Krise, Flüchtlingsströme).
Heute wissen wir, auch Dank Bellingcat, dass die Opfer von MH17 nur mit die Ersten in einem Krieg waren, der vor fast zehn Jahren begann. Bei aller Kritik an den downsides des Internet zeigt eine Plattform wie Bellingcat, wie das Internet selber auch ein Instrument der Überführung von Tätern und ihren Motiven sein kann. Und das machen die Nerds der Plattform mit öffentlich zugänglichen (open source-)Mitteln. Nerds sind sie wohl, aber fürs Gute.
Tragisch, dass es anscheinend so etwas geben muss
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