Jeder Querbalken trägt eine religiöse Widmung. Und jedes Haus vermerkt stolz seine Erbauung „im Jahr des Herrn.“ Wer die gepflasterten Straßen des kleinen Städtchens betritt, wird unvermittelt ins 16. Jahrhundert katapultiert. Nur waren die Straßen vor 400 und mehr Jahren nicht befestigt, sondern ein einziger Morast aus Abfällen und Kot. Vergessen wir das für einen Moment.
Die Pracht der Fachwerkfassaden im 3000 Einwohner-Städtchen Hornburg zeugt von Reichtum im Vorharz zwischen Goslar, Braunschweig und Magdeburg. Und entlang der Jahreszahlen reist der Besucher zurück in eine Zeit von Dauerzwist und Fürstenrivalitäten, in welcher der Einzelne hilfloses Werkzeug und meist Opfer war. Aber es gab auch Gewinner.

1561 zum Beispiel. Es ist das Geburtsjahr von Francis Bacon, dem Philosophen und Begründer der modernen Wissenschaftstheorie. In Hornburg und anderswo in den mitteldeutschen Fürstentümern erzielt man viel Wohlstand mit dem Anbau einer Frucht, die nach dem 1516 verabschiedeten „Reinheitsgebot“ für das Brauen eines Getränks unerlässlich ist: Hopfen. Und Bier wurde der Health Drink jener Zeit, als Wasser aus den städtischen Brunnen eher krank machte.

Reisen wir fünf Jahre weiter: Weiter im Westen braut sich Unheil zusammen. Mit dem Bildersturm in Antwerpen 1566 beginnt der Kampf der Niederlande gegen die katholische Oppression aus Spanien. Philipp II. schlägt zurück.

Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel erfährt mit dem Regierungsantritt von Herzog Julius 1567 eine kulturelle Blüte: Er gründet die Bibliothek in Wolfenbüttel und die Universität Helmstedt, der Protestantismus ist fest installiert. Die Wirtschaft blüht zwischen Harz- Bergbau und Waffenproduktion. Es wird viel getrunken, unter und über Tage, Hornburgs Hopfen blüht munter weiter. Es ist sonnig hier und der Boden geeignet.
In den Niederlanden hat der Kampf erst begonnen. 1568 versammelt Wilhelm von Oranien, früher Freund von Philipp II. am Hof in Brüssel, eine Armee auf der Ginsburg im Siegerland und beginnt den Feldzug gegen die Spanier an Maas und Schelde.

Aber unter Julius wächst auch die Animosität zur stolzen Hansestadt Braunschweig, deren Bürger sich nicht unterkriegen lassen wollen. Er baut seine Residenz Wolfenbüttel weiter aus, im Osten die heutige Juliusstadt. Unter der Anleitung eines Niederländers wird Wolfenbüttel durch Grachten von den Okerhochwassern verschont. Es wird gebaut und getrunken, der Hopfen blüht – und Hornburgs Bürger zeigen den Wohlstand.

1578 steht Wilhelm von Oranien vor Amsterdam und gewinnt die Einwohner für sich und den Kampf gegen Spanien. Der kleine Peter Paul Rubens feiert in Siegen seinen ersten Geburtstag.

1583 ist das erste Jahr im Gregorianischen Kalender, der bis heute gültig ist und durch verbesserte Schaltjahre den Kalender mit dem Sonnenjahr synchronisiert. Das sollte gebührend mit Bier, gebraut mit Hopfen aus Hornburg gefeiert werden.

Die erste Siedlerkolonie im neuentdeckten Amerika ist 1590 verschwunden, in den Niederlanden wird immer noch gekämpft (man spricht vom 80-jährigen Krieg). In Wolfenbüttel hat im Jahr zuvor Heinrich Julius die Nachfolge seines Vaters angetreten. Auch unter ihm blüht die Stadt an der Oker, und damit auch der Hopfen in Hornburg.

Im Wolfenbüttel erscheint im Januar 1609 Aviso, Relation oder Zeitung, die zweitälteste Zeitung der Welt. Deren Untertitel ist aufschlussreich: Was sich begeben vnd zugetragen hat / in Deutsch: vnd Welschland / Spannien / Niederlandt / Engellandt / Franckreich / Vngern / Osterreich / Schweden / Polen / vnnd in allen Provintzen / in Ost: vnnd West-Indien etc. Die Bürger Hornburgs haben sicher Zeit zum Lesen, die Arbeit am Hopfen leisten die Bauern (oder Leibeigenen) aus den Dörfern der Umgebung. Prost!

In Toledo stirbt 1614 El Greco, d e r Maler des katholischen Spaniens. In Mitteleuropa wachsen die Spannungen zwischen protestantischen Fürsten und dem neuen Kaiser Matthias (ab 1612). Es endet mit der Eskalation in Prag 1618.
Mit dem Fenstersturz dort stürzt vor allem das heutige Mitteldeutschland als Schauplatz in einen brutalen 30-jährigen Krieg. In Hornburg ist damit der Hopfen für immer verloren.

Aufstieg und Fall (und heutige Blüte mit restauriertem Fachwerk) einer winzigen Stadt steht beispielhaft für deutsche Geschichte. Einen knappen Kilometer hinter den letzten Häusern verlief bis 1989 der Grenzzaun der DDR. Heute sind die Schwesterstadt Osterwiek in Sachsen-Anhalt und Hornburg vereint im Kampf ums demographische und wirtschaftliche Überleben.
An einigen Stellen hat die weite Welt und ein Krieg unweit in Europa die Fachwerkkulisse durchbrochen. Und ein mittelalterlicher Spross Hornburgs hat es zum Papst in Rom geschafft (und liegt als Clemens II. im Bamberger Dom begraben).









Hier ist ein Ort schnurstracks aus der Vergangenheit in die Gegenwart gefallen. Besucher reiben sich die Augen, Bewohner suchen nach neuen Möglichkeiten.
Neulich Fotoa aus Goslar in die Hand bekommen und was soll ich sagen … ungefähr so … nur in schwarz-weiß … und kaum Autos
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… aus den 30-er Jahren meinte ich …
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