Vorzüge des Alterns? Keine, wenn’s um Fitness und Gesundheit geht. Aber viele, wenn es um Zeit zum Nachdenken und Reflektieren geht. Überhaupt um Zeit.
Hypothek abgezahlt. Check! Kinder längst aus dem Haus. Check! Rente und Nachlass geregelt. Check! Einen Bekannten, der oft im Hospiz arbeitet, fragte ich, was seine Patienten am meisten bewegt. „Das sie keine Zeit mehr haben noch etwas zu regeln.“ Es tröstet, wenn vor einigen Tagen ein Arzt in der New York Times schrieb, es sei eine Illusion zu glauben, man sei auf das Sterben vorbereitet. Der Gevatter mit der Sense kommt immer, wenn man ihn am wenigsten erwartet.
Das größte Vorzug ist viel Zeit zu haben, ein Schatz, der zwischen Studium, Karriere und Familie nicht zur Verfügung stand. Langes Frühstück, die Weltnachrichten aufmerksam verfolgen können, keine Zeit im Stau verschwenden, die Dinge langsamer angehen.
Aber es geht um mehr: Zeit, um die Dinge weiter zu denken, Zeit, die man dafür sonst nicht hat. Ich nutze zum Beispiel das Bloggen, um aus vergangener Zeit Bezüge zum Heute herzustellen. Vieles aus meiner beruflichen Laufbahn und von den Reisen um den Globus tritt dabei in ein neues Licht oder ergänzt Eindrücke von damals. Zu vielen Nachrichten habe ich deshalb einen Bezug, weil ich den Ort des Geschehens kenne.
Und doch hat sich etwas verändert, was den Ruhestand in Unruhe bringt und aus dem es kein Entkommen gibt: Krisen, die jeden betreffen und die global sind. Die Erfahrung einer Pandemie lag 2020 hundert Jahre zurück, überlagert von der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Aber schon jetzt droht die Corona-Pandemie aus dem Bewusstsein zu verschwinden. Dabei flackern überall Warnlampen auf. Die nächste kommt.

Die zweite Krise, für die es in meiner Lebenszeit kein Vorbild gibt, flackerte schon seit mindestens drei Jahrzehnten über dem Horizont: globale Klimaveränderungen. Als Redakteur einer Fachzeitschrift machte ich mit den wissenschaftlichen Aussagen schon Anfang der 1990er Jahre Bekanntschaft, Klimawandel wurde fast zum Wissenschaftsmantra. Gern überlesen, von der Politik lange ignoriert. Ich lese gerade das Buch von der Energie-Ökonomin Claudia Kemfert („Schockwellen – Letzte Chance für sichere Energien und Frieden„), einer schonungslosen Abrechnung mit den Energieunternehmen und politisch Verantwortlichen der vergangenen Jahre. Ich kenne Frau Kemfert als Autorin meiner Zeitschrift und kann den Frust einer anerkannten Wissenschaftlerin nachvollziehen, deren Forschungsergebnisse und Warnungen vor Energieabhängigkeiten (vor allem von Russland) und der Verschleppung der Energiewende ungehört verhallten.
Inzwischen aber setzt sich ein nicht mehr zu ignorierendes Muster aus Dürren, Stürmen, Überschwemmungen überall auf dem Globus zusammen, das ohne Klimaerwärmung nicht mehr zu erklären ist – bis vor unsere Haustür. Der Harz, unser nahe gelegenes Ausflugsziel, wirkt wie ein Katastrophengebiet, das Ahrtal wurde zu einem.
Und mittendrin ein Krieg, den am aller wenigsten meine Generation nach 1989 für möglich hielt. Einer vor unserer Haustür, ein Angriffskrieg, Völkerrecht verletzend, die Zivilbevölkerung attackierend, mit barbarischen Mitteln geführt. Ein Krieg derzeit noch unterhalb der atomaren Schwelle. Das Verständnis von Frieden, Diplomatie und Interessensausgleich, mit dem ich groß geworden bin, ist mit einem Schlag annulliert. „Zeitenwende“ in der Tat – eine ganze Epoche ist zu Ende. Die schockierendste Erkenntnis: dass autoritäre Herrschaft entgegen strategisch-wirtschaftlicher Logik selbstzerstörerische Machtkriege führen kann – mit Blut um Boden, Faschismus in etwas neuerem Kleid.

Und der Krieg bringt die zwei Krisen unserer Zeit zusammen: Abhängigkeit von fossiler Energie und die Illusion eines friedlichen Europas. Aus dieser Doppelkrise kann ich mich auch im Ruhestand nicht verabschieden, so sehr ich es mir wünschte. Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar, Lösungen nicht im Ansatz zu erkennen. Die Energiewende? Zu langsam für eine „strategische (Energie)-Autarkie“! Wärmepumpe oder Photovoltaik auf dem Dach sind mit beträchtlichen Kosten verbunden, für meine statistische „Restlebenszeit“ nicht lohnend. Leichter ist es für mich einzusparen, ressourcenschonend zu konsumieren oder die Winter in warmen Regionen zu verbringen.
Das Frühjahr 2023 stellt mich vor die Wahl: Idealismus gegen den neuen Realismus einzutauschen oder sich Fakten zu verschließen. Fazit: Ich muss mich auf eine neue Lebenssicht einstellen, es bleibt sonst nur noch ein Leben auf Sicht.
Der letzte Satz hat‘s mir angetan. Danke
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