Fortschritt rückwärts

In unserer derzeitigen multiplen Krisenlage fällt es selbst einem geborenen Optimisten schwer, klaren Kopf für deren Ursachen zu haben. Klimawandel, Umweltschäden, Kriegsbedrohung, Wirtschaftskrise, soziale Konflikte – alles kommt auf einmal zusammen. Auf Jahr und Tag vor 40 Jahren brach ich mit meiner jungen Familie nach Indien auf und (auf Zeit) die Brücken hinter uns ab. Das geht nicht ohne großes Zukunftsvertrauen. Und das 1983, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und der sogenannten „Nachrüstung“ in Europa!

Ich stieß heute auf einen Beitrag des Kolumnisten und Labour-Aktivisten Owen Jones im britischen GUARDIAN. Er beschreibt die Ursachen des Niedergangs in einem lesenswerten Überblick:

Politicians are right about the ‘decline of the west’ – but so wrong about the causes“ by Owen Jones. THE GUARDIAN online, 5 April 2023 *

„Wenn es so etwas wie menschlichen Fortschritt gibt, dann ist er nicht nur zum Stillstand gekommen, sondern hat den Rückwärtsgang eingelegt. Im vergangenen Herbst stellte ein wenig beachteter Bericht der Vereinten Nationen fest, dass die menschliche Entwicklung in 90 % der Länder zwei Jahre in Folge zurückgegangen ist, ein Rückgang seit mehr als drei Jahrzehnten ohne Beispiel. Die Pandemie und die russische Invasion in der Ukraine spielten dabei eine Rolle, aber eben auch „weitreichende soziale und wirtschaftliche Verschiebungen, gefährliche planetarische Veränderungen und massive Zunahme der politischen und sozialen Polarisierung“.

Wer vielleicht mit dem Geschwätz über den „Niedergang des Westens“ vertraut ist, wird erkennen: Er ist tendenziell der reaktionären Rechten vorbehalten, die verschiedentlich moralischen Verfall, Multikulturalismus und eine Neubewertung der europäischen Geschichte für unseren Untergang verantwortlich macht. Aber es sind nicht die Minderheitenrechte, die Vielfalt oder die Anerkennung westlicher Verbrechen gegen die Menschheit schuld. Die Wende in unserem kollektiven Schicksal war dramatisch. Aber sie wird von einem Wirtschaftssystem angetrieben, das persönliche Freiheit versprach, stattdessen hingegen massenhaft Unsicherheit liefert und uns auf jede erdenkliche Weise verletzt hat, von unserem emotionalen und körperlichen Wohlbefinden bis hin zu unseren materiellen Bedingungen.

Nehmen wir ein grundlegendes Kriterium: Leben und Tod. Die britische Regierung war gezwungen, die Anhebung des staatlichen Rentenalters zu verschieben, nachdem die Lebenserwartung seit dem Krieg beispiellos gesunken war. Obwohl sich die Lebenserwartung sicherlich durch die Pandemie verschlechtert hat, sank sie in vielen englischen Gemeinden bereits Jahre vor Covid. In den USA sank die Lebenserwartung von fast 79 Jahren im Jahr 2019 auf 76 Jahre später, der größte Rückgang seit einem Jahrhundert.

Und die Symptome für eine Krise des Wohlstandes und des subjektiven Wohlbefindens sind überall. Auf der anderen Seite des Atlantiks stieg die Selbstmordrate in den ersten 20 Jahren des 21. Jahrhunderts um 30 %. Mit der Eskalation des „Kriegs gegen Drogen“ eskalierten auch die Todesfälle durch Drogenmissbrauch: In den USA sind sie seit den 1970er Jahren exponentiell gestiegen und haben dazu beigetragen, den Rückgang der Lebenserwartung voranzutreiben, während sie in Großbritannien den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen erreicht haben.

Karl Marx hat die Religion einmal als den „Seufzer des unterdrückten Geschöpfes“ bezeichnet: Heute ist dies eher eine treffende Beschreibung der Drogenabhängigkeit, die von der Selbstmedikation der von Trauma und Elend Betroffenen angetrieben wird. In der Tat ist es schwierig, sich von einer weltweiten Zunahme an Depressionskrankheiten zu lösen, die zwischen 2005 und 2015 um fast ein Fünftel gestiegen ist, und dies vor allem unter US-Teenagern.

Ein westeuropäischer Bürger, der 1945 auf die Trümmer blickte, die der blutigste Krieg der Menschheit hinterlassen hatte, wäre überrascht gewesen, hätte er entdeckt, dass die erfolgreichsten Jahre der Geschichte auf ihn warteten. Der beispiellose Anstieg des Lebensstandards im Westen in den drei Jahrzehnten nach dem Krieg war so groß, dass er als „Goldenes Zeitalter“ bezeichnet wurde. für die Franzosen waren es die „30 glorreichen Jahre“.

Aber im Verlauf der 2010er Jahre musste Großbritannien einen besonders deutlichen Rückgang der Löhne hinnehmen, in der gesamten westlichen Welt stagnierten sie ebenfalls. Vor Ausbruch der Pandemie hatte sich die Kaufkraft der US-Arbeiter vier Jahrzehnte lang kaum verändert.

Es fällt leicht sich der Illusion hinzugeben, es gäbe immer doch noch dramatische Fortschritte. Computerchips werden immer kleiner, Computerprozessoren immer schneller, Mobiltelefone immer dynamischer. Aber technologischer Fortschritt führt nicht automatisch zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen. In weiten Teilen des Westens sind Stagnation und Niedergang zum bestimmenden Merkmal unserer Zeit geworden. Wer verstehen will, warum die Politik wütender und polarisierter wurde, sollte nicht nach einfachen Erklärungen wie den sozialen Medien suchen.

Denn seit mehr als einer Generation scheint ein großes Experiment zu laufen: Wie wäre es, wenn man den Optimismus der wohlhabenden Gesellschaften eliminieren würde, die zuvor einen ständig steigenden Lebensstandard für selbstverständlich hielten? Der Aufstieg des „freien Marktes“, so wurde uns versprochen, würde endlosen Wohlstand freisetzen.

Doch während das oft dämonisierte Zeitalter starker Gewerkschaften, Verstaatlichungen und expansiver Wohlfahrtsstaaten die größte Verbesserung des Lebensstandards in der Geschichte brachte, zersetzt sich unser aktuelles Wirtschaftsmodell überall um uns herum: Der Gestank ist immer schwerer zu ignorieren. Auf beiden Seiten des Atlantiks ist das Wirtschaftswachstum gesunken, seit sich der Staat zurückgezogen hat. Und dieses begrenztere Wachstum landet eher auf den Bankkonten der Superreichen.

Wie erklärt sich beispielsweise die sinkende Lebenserwartung aufgrund des steigenden Opiatkonsums in den USA? Wir wissen, dass das Verschwinden sicherer, gut bezahlter Jobs die Bedingungen des Elends hervorgebracht hat, in denen Sucht gedeiht. Die wachsende Ungleichheit hat dazu beigetragen, die Verschlechterung der psychischen Gesundheit voranzutreiben: Depressionsraten korrelieren beispielsweise mit niedrigem Einkommen. Vom Zusammenbruch im öffentlichen Wohnungsbau bis zur Dezimierung der Sozialfürsorge wurde die Sicherheit, die eine komfortable menschliche Existenz untermauert, zersetzt.

Und doch wird dieser Stillstand des menschlichen Fortschritts in der Öffentlichkeit kaum erwähnt, geschweige denn debattiert. Wie schnell könnten Stagnation und langsamer Niedergang in einem freien Fall münden, wenn die Menschheit mit sich gegenseitig vervielfachenden existenziellen Herausforderungen konfrontiert ist. Es braucht keine übertriebene Vorstellungskraft, um sich über die möglichen brutalen Konsequenzen klar zu werden, insbesondere wenn selbst fortschrittliche Politiker keine überzeugenden Antworten geben. Unser Lebensalter verkürzt sich, unser Wohlbefinden nimmt ab, unser Sicherheitsgefühl wird erodiert. Das sind Bedingungen für tiefsitzende Verzweiflung, aus der uns bald eine bittere Ernte droht.“

* Übersetzung: Google Translate, bearbeitet von Reiner Juengst

Aufmacherfoto: Pawnshop Detroit, Sept. 2008

Ergänzung und wie zur Bestätigung von heute (6.3.2023):

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