
Von der Urfa-Festung reichte der Blick an jenem schönen Maitag vor knapp neun Jahren über die Altstadt von Sanliurfa zu den kargen Hängen und der dichten Bebauung im Westen und Norden der Stadt. Unter uns die Minarette der Bergah-Moschee. Nichts deutet daraufhin, dass wir an einer immens gefährlichen tektonischen Plattengrenze stehen.
Im Bereich der EAF (East Anatolia Fault)-Zone wandert die Arabische Platte nach Norden und trifft an der Bitlis-Zagros-Kollisionszone auf die Anatolische Platte. Diese Kollisionszone bildet einen Bogen vom Persischen Golf durch Kurdistan bis zum Golf von Iskenderun.

Sie hat in diesen Tage ihre Spannung in der Erdkruste entladen und Tod und Verwüstung im Südosten der Türkei und in Nordsyrien gebracht.

Die Bilder von zerstörten Wohnblocks und zertrümmerten Straßenzügen lassen erahnen, welches Leid sich dahinter verbirgt. Man hört dabei auf zu denken und zu fühlen, so verstörend sind die Bilder.
Die vom Erdbeben betroffene Region ist historisch Teil des sogenannten fruchtbaren Halbmonds, Ursprungsregion unser aller Kultur und Zivilisation. Vom Neolithikum bis zu den politischen Konflikten heute: Assyrer, Perser, Parther, Hellenen, Römer, Sassaniden, die Ausbreitung des Islam, Osmanisches Reich, Kolonialzeit, Ölreichtum und der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten, Kurden, Arabern und Türken. Dazu ist es eine Landschaft von kargen Gebirgszügen durchsetzt mit fruchtbaren Tälern und Oasen. Das mediterrane Klima begünstig den Anbau von Früchten, aber ohne das Wasser von Euphrat und Tigris wäre eine intensive Landwirtschaft nicht möglich.
Sanliurfa und Harran: Spuren Abrahams. Reiners.blog, 19.1.2021
Auf unserer Reise fuhren wir damals (im Mai 2014) von Zentralanatolien hinunter an die Küste bei Adana. Vorbei an Gaziantep erreichten wir Sanliurfa. Von dort ging es nach Diyarbakir und in einem Bogen zurück über den Nemrut Dagi und Adiyaman nach Malatya und zum Ausgangspunkt in Kappadokien.
Im Foto unten schweift der Blick über Sanliurfa, dem antiken Edessa. Die Stadt gilt als Geburtsort des Propheten Abraham, dem Urvater von Islam, Christentum und Judentum. Aber die Bedeutung der Region für die Entwicklung der Menschheit geht noch weiter zurück, zum Beginn des Neolithikums. Die Hügelkette am oberen rechten Bildrand gehören zu Göbekli Tepe, der bislang ältesten Kultstätte der Menschheit.
Am Grab einer Zivilisation. Reiners.blog, 31.1.2017

Nördlich von Sanliurfa fließt der Euphrat parallel zur Verwerfung, bevor er nach Süden und in das Staatsgebiet Syrien abbiegt. Das Foto entstand unterhalb des gewaltigen Atatürk-Staudamms.

Von Sanliurfa nach Diyarbakir führt die Straße über eine weite, steinige Ebene. Aber auch in der kurdischen Stadt, weit entfernt vom Epizentrum, sind Gebäude eingestürzt.

Damals noch im Bau quert eine Hängebrücke das äußerste nordöstliche Ende des Atatürk-Stausees zwischen Siverek und Adiyaman.

Vor Adiyaman biegt die Zufahrt zum Nemrut Dagi ab. In über 2000 m Höhe hat sich ein antiker Fürst ein einzigartiges Grabmal gebaut, einen Kegel auf der Bergspitze, an zwei Seiten umrahmt von gewaltigen Statuen griechischer und persischer Gottheiten. Ihre Köpfe stehen verloren herum, ein Erdbeben (!) hat sie vor langer Zeit dorthin gerollt. Der Nemrut Dagi liegt exakt auf der Verwerfung.
Nemrut Dgai: kleiner König, großer Marker. Reiners.blog, 23.5.2021

Weiter nach Nordosten und nur über die Pässe und Schluchten des östlichen Taurus zu erreichen liegt die Ebene von Malatya. Die Stadt und ihr Umland produzieren Früchte, die als Trockenfrüchte in unseren Regalen lagern, vor allem Aprikosen.

Wenn im Mai die Region in warmer Frühlingssonne strahlt, ist kaum vorstellbar, was wir derzeit auf den Bildschirmen sehen: Schnee, Regen, und Eiseskälte – mitten in der Katastrophe. Man kann nicht einmal erahnen, was das für die Menschen in der Türkei und in Nordsyrien bedeutet, die jetzt das Beben im Südosten überlebt haben.





Altstadt-Treff in Diyarbakir. Reiners.blog, 11.2.2017
Ich lese gerade ein Buch über Alexander von Humboldt (Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, Bertelsmann, München 2016). Der erlebte am 4. November 1799 im venezolanischen Cumana ein Erdbeben, das sein Verständnis von einer „verlässlichen Natur“ tief erschütterte. „Man misstraut zum ersten Mal einem Boden, auf den man so lange zuversichtlich den Fuß gesetzt“, schreibt er (Wulf, S. 79).
Ob in Kalifornien, in Istanbul oder in Tokio, die Menschen in Erdbebenzonen leben mit dem Gefühl, dass der Boden auf dem sie gehen, fahren oder gebaut haben, plötzlich schwanken und schwingen kann. Alle Augenzeugen von Erdbeben, ja sogar geologische Experten beschreiben die Panik, die das in uns auslöst. Unser Planet besteht aus einer dünnen Kruste von Platten und Schollen, die auf einem glühend heißen, flüssigen Inneren treiben und gelegentlich kollidieren. Für den Planeten mag es nur ein Kitzeln sein, für seine Bewohner bedeutet es schierer Terror und unbeschreibliches Leid.
Was the earth quake’s high death toll preventable? Geologists say yes. The Washington Post, 9.2.2023
Soviel Geschichte und nun so viel Leid.
Ich habe im Oktober 2015 einen Erdbebenausläufer in Delhi erlebt. Da wackelte es im Hotel nur leicht, aber das werde ich nie vergessen.
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Ja, das war das damalige 7.8 Beben in Kathmandu! Das wird auch in dem Washington Post-Artikel erwähnt, den ich dem Beitrag hier beigefügt habe.
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