Einmal Indien und zurück

Ich hatte nicht geahnt, dass eine Indien-Reise zu einer Übung in Gelassenheit und Stoizismus werden sollte. Eigentlich klappt doch bei uns immer alles, vor allem wenn man mit der nationalen Linie mit dem Kranich am Heck unterwegs ist. Acht Tage später bin ich schlauer.

Es fing schon verdächtig an: Am ziemlich leeren Schalter der Kranichlinie in Hannover steuerten wir auf eine gemütlich aussehende Dame zu und reichten Pässe und Papierausdrucke der Visa-Bescheide durch die Scheibe. Sie müsse prüfen, ob die Nummern des Passes und Touristenvisums mit denen übereinstimmen, die ich beim online-Check-in eingegeben habe. Man hat ja sonst nichts zu tun, um Reisenden auf dem Weg nach Mumbai die eigene Bedeutung zu demonstrieren. „Sie haben ein großes O statt einer Null eingegeben, da muss ich Rücksprache nehmen!“ Ich dachte zunächst an einen Scherz und sagte das auch. Sie wurde ungehalten und griff zum Telefon. Ob O oder 0, wen interessiert das in Mumbai? Ich gebe zu, ich bin laut geworden. Schließlich erhielten wir die Bordkarten…

Wir freuten uns, pünktlich am Flugsteig in München angekommen zu sein, von wo es nach Mumbai weiter gehen sollte. Ein Pulk gemischter Nationalitäten drängte sich um kleine Tische zum Vor-Check: Bei richtigem Visum erhielten wir einen Sticker auf die Bordkarte, soweit alles im Rahmen.

Dann eine erst noch unverdächtige Ankündigung: Man könne leider keine Upgrades oder Sitzplatzänderungen vornehmen, da das IT-System ausgefallen sei. Nun ja, shit happens, dachte ich. Wir hatten ja Plätze. Das Einsteigen verzögerte sich.

Und dann passierte etwas, was ich nach fast sechs Jahrzehnten Fliegen noch nie erlebt hatte: Die Chef-Pilotin höchstpersönlich kam an das Gate, nahm das Mikro und hielt eine denkwürdige Rede (zunächst in Deutsch, aber die Unruhe sprang unmittelbar auf alle Nationalitäten über). Es gäbe einen Komplettausfall des IT-Systems innerhalb der gesamten Lufthansagruppe. In Frankfurt seien alle ausgehenden Flüge gestoppt worden. Die gute Nachricht für uns hier in München sei: Wir könnten fliegen. Die schlechte: Wir fliegen komplett ohne Gepäck. Nach der englischen Übersetzung brach sich die Unruhe Bahnen. Erst Ungläubigkeit bei den indischen Mitreisenden, die meisten mit einem Nachtflug aus den USA hinter sich, dann bestürmten sie die Damen am Schalter. Es wurde geschimpft, geflucht und ziemlich laut. „What about German reliability?“

Die Pilotin nahm wieder das Mikrofon und wies daraufhin, dass das Fenster zum Abflug kleiner würde, wenn wir nicht schnellstens weg kommen. Sie rate zu fliegen, die Gesellschaft werde schnellst möglich das Gepäck nachsenden. Ein Teil der Passagiere hatte aber keine Lust mehr nach Mumbai zu fliegen, sogar wissend, dass ihr Fortkommen aus München in den Sternen stand (zumal für zwei Tage drauf auch ein Streik angekündigt war). Wir entschieden uns, die Reise anzutreten, vertrauten der Pilotin. Das Flugzeug flog zu einem Drittel leer los.

Wir kamen kurz nach Mitternacht in Mumbai an und standen zwei Stunden bei der Einreise an (0 oder O interessierte kein Mensch!). Im Flugzeug hatte man uns gesagt, wir könnten das fehlende Gepäck online melden, alles andere erfolge automatisch. Von wegen: In der Zeit der Warteschlange an der Passkontrolle versuchte ich per App der Airline die online-Meldung auszufüllen (not available at this airport of arrival). So gegen zwei oder drei Uhr morgens hebt das nicht die Stimmung.

In der Gepäckhalle drängte sich alle um einen winzigen Lost & found-Schalter. Junge Männer in schwarzen Anzügen liefen hektisch mit Antragsformularen hin und her, die Passagiere mussten auf fremden Koffern oder dem Boden sitzend Formulare mit dreifachem Durchschlag ausfüllen (meine Handschrift ist um diese Tageszeit und unter solchen Bedingungen ziemlich unleserlich). Immerhin: Es klappte. Wir alle mussten mit dem Formular zu einem Zollbeamten, der es abstempelte und noch unser kleines Handgepäck durch einen Scanner jagte. Ich fragte einen der jungen Männer, der mir die rosarote Kopie meines Formulars aushändigte, wann wir mit der Lieferung an die Zieladresse im Hotel in Pune, knapp vier Fahrstunden entfernt, rechnen könnten. „Ein bis zwei Wochen!“ meinte er. Ich war zu müde, um darauf noch zu reagieren.

Am Ausgang standen hunderte Fahrer mit Namensschildern, wir fanden unseren fürs Hotel in Flughafennähe, der seit drei Stunden gewartet hatte, und fielen um halb vier morgens ins Bett. Die Tragweite, dass unser Gepäck uns über Tage nicht erreichen wird, begann in uns nach wenigen Stunden Schlaf und einer sündhaft teuren Nacht im Luxus zwischen den Slums von Mumbai gerade erst zu dämmern.

Dennoch geschehen Wunder immer dann, wenn es am aussichtslosesten wirkt: Pünktlich um 12 Uhr mittags stand der Fahrer aus Pune auf dem Hotelparkplatz, der uns zu unserem Sohn bringen sollte. Und was für einer: Wir fühlten uns wie im „Großen Preis von Indien“. Der schlaksige Anfang 20-Jährige navigierte uns wie ein geübter Rallyefahrer aus dem Verkehrschaos der Innenstand von Mumbai auf den Expressway Richtung Pune. Nach dreieinhalb Stunden standen wir in unserer Winterkleidung und samt Rucksack und Handtasche im Foyer des Hyatt in Pune. Man konnte kaum glauben, dass die Foreigners komplett ohne Gepäck anreisen, fühlte aber unseren Schmerz, als wir die Hintergründe erläuterten.

Am selben Nachmittag gings in eine nahegelegene Mall, in der wir das Nötigste an Kleidung für die 30 bis 35 Grad Temperaturen einkaufen konnten. Nach zwei Tagen tauchte eine Meldung auf meinem Laptop auf, dass das Gepäck gefunden sei und am 18. Februar die Reise nach Mumbai anträte, alles weitere würde umgehend elektronisch gemeldet. Es vergingen zwei weitere Tage ohne Hinweis auf Gepäck, das auch Medikamente und Geschenke enthielt. Inzwischen hatten wir eine schöne Zeit mit unserem Sohn und seiner Freundin, aber dazu gibt es ein Tagebuch der acht denkwürdigen Tage in Pune auf diesen Seiten.

Unsere Lust auf eine geplante längere Reise durch Maharashtra und (für mich) nach Kerala schwand zusehends. Online war eine Umbuchung nicht möglich (immer noch Nachhall des IT-Crashs), aber ich erreichte mitten in der Nacht in Frankfurt eine Mitarbeiterin des LH-Vielfliegerprogramms. Nach einer Stunde in der Leitung gelang es ihr, uns auf den nächst möglichen Rückflug umzubuchen, mit nicht unerheblichen Zuschlägen. Was solls.

Am Vorabend der Rückreise nach Mumbai gab es eine Überraschung: In der Hotellobby standen unsere Koffer, in Folien eingehüllt wie zwei Schmetterlingsraupen vor der Entpuppung. Das Personal in der Lobby strahlte mit uns. Aber es erschien uns nicht mehr wie ein Wunder, sondern nur noch als eine bittere Ironie des Schicksals. Immerhin, wir konnten die Geschenke überreichen und unsere gewohnten Klamotten für den Rückflug anziehen. Ein Fahrer brachte uns am nächsten Mittag vom Dekkan runter zurück in den Alptraum Mumbai.

Wir bezogen für ein paar Stunden das gleiche Hotel nahe dem Flughafen und schauten bei einem Bier auf dem 12. Stock auf die Lichter der Metropole. Der Fahrer des Hotels, der uns um Mitternacht zum Terminal brachte, erinnerte sich an uns und unser Gepäckschicksal. Er und seine Familie habe so mitgelitten. „It will be a Remember Trip!“ meinte er. Damit hatte er auf unnachahmliche Art alles in zwei Worte gefasst.

India at it’s best, India at it’s worst liegen ganz eng beieinander. Wir betraten nach acht Tagen wieder Boden in Hannover. Aber die Sache mit der Null bleibt haften.

3 Gedanken zu “Einmal Indien und zurück

  1. Ich leide mit euch, was für ein Alptraum. Und dabei lag es nicht mal an Indien, sondern an einem deutschen Vorzeigeunternehmen. Ehemals, muss man wohl dazu sagen. Mit den zahllosen Streiks von Piloten, Bordpersonal, Bodenpersonal, Fluglotsen, Sicherheitskräften und anderen Beteiligten hat sich Lufthansa in meinen Augen längst auf das Niveau einer griechischen Chaos Airline begeben.

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  2. Oh je, was für ein Abenteuer … das erklärt, warum du zeitweise abgetaucht warst 😉

    „Mein Inder“ hatte ja im Dezember ähnliche Probleme von MUC via FRA nach BLR zu kommen. Und das bei diesen hohen Preisen der Kranich-line.

    Der Komplett-Ausfall der IT durch einen Deutschen Bagger-Arbeiter verursacht, mag ein Sonderfall sein, Unpünktlichkeit und vor allen Intransparenz und schlechte Kommunikation gibts leider auch im Regelfall

    Gefällt 1 Person

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