Neulich im Fast Food-Restaurant: Du kippst die Hälfte der Portion Fritten aus der Tüte auf die Papierunterlage, dann öffnest Du die Ketchup-Packung und presst sie auf den freien Platz daneben. Immerhin ist der Dipp zu den frittierten Hähnchenstücken noch in einem kleinen Plastikbecher. Und selbstverständlich nimmst Du die Nuggets oder den Burger in die Hand.
Das ist natürlich weit weg von gepflegter Tischkultur, mit Besteck von außen nach innen, Porzellan oder gar edlen Gläsern. Aber es ist gar nicht so weit weg von der Tisch- und Esskultur in Südindien, mit der wir in den 1980er Jahren vertraut wurden. Essen ausschließlich mit den Händen ist dort hohe Kunst, mehr noch Essen mit nur einer Hand (der rechten). Aber was im Fast Food lässig ist, hat in Südindien einen kulturellen Hintergrund.

Neben Sprachen, Schriften oder religiösen und sozialen Traditionen definiert auch Tischkultur einen „Kulturraum“. Meine erste Begegnung damit hatte ich als Backpacker in Singapur Ende der 1970er Jahre. In den Straßenküchen nahm man das Schälchen in die Hand und schlürfte die Nudeln (irgendwie mit den Holzstäbchen fassen) genüsslich in den Mund. Das Geräusch gehörte zum guten Ton. Unter den Tischen standen Näpfe, wohin man – falls zielsicher – die kleinen Knochen des Hühnchens werfen konnte. Nach der Mahlzeit wurden die Stäbchen in großen Töpfen abgekocht und standen für den nächsten Gast zur Verfügung.
Ohne Stäbchen, ohne Gabel, geschweige Messer – allenfalls mit einem kleinen Löffel um Salz auf Reis und Gemüse zu streuen – wird in Südindien, hier besonders in Tamil Nadu die Mahlzeit eingenommen. Ein kahler Tisch, leicht abzuwischen und zu säubern, darauf ein Bananenblatt und ein Edelstahlbecher mit Wasser – und schon ist der Tisch für das traditionelle „Meal“ (oder Thali) bereitet. Nebenbei: rein vegetarisch und unendlich lecker und gesund. Es gibt nur d a s Meal für einen fixen Preis, die Bestellung also extrem unkompliziert. Man zahlt beim Verlassen des Restaurants beim Kassierer am Ausgang.
Es gibt inzwschen für uns und die Mittelklasse eine „edlere“ Variante des Thalis: das Bananenblatt ist für einen Teller aus Edelstahl zusammen geschnitten, die Gemüsenvariationen schön drum herum arrangeert, ein Augen- und Gaumenschmaus.

Aber authentisch und überall erhältlich ist das Meal wie in meinem Lieblingsrestaurant am Busbahnhof in Tiruchirapalli, von wo einige der folgenden Bilder stammen.

Das Wasser im Becher dient nicht nur zum Trinken. Man verwendet einen Spritzer, um das Bananenblatt zu säubern. Das ist nur ein Ritual, denn die Zeiten wo staubige Blätter auf den Tisch kamen sind vorbei. Es ist völlig in Ordnung, das Bananblatt dann am Tisch abzuschütteln.
Die Kellner – und der Name ist berechtigt – laufen zwischen den Tischen herum und befüllen das Bananenblatt mit Kellen (!) aus kleinen Eimern mit einem halben Dutzend verschiedener Gemüse, Chutneys oder dem legendären Papadam (oben rechts im Foto). In der Mitte platzieren sie einen Haufen Reis, den man beliebig nachfordern kann („unlimited meal“).

Und ab dann wird es artistisch.

Die linke Hand bleibt am Körper, mit der rechten „führt“ man die Gemüse in den Reis, mischt sie mit den Fingern ein und schaufelt den Brei in den Mund. Die Reihenfolge der Curries ist beliebig (auch hier kann man nachfordern).
Aber es gibt eine Reihefolge, die dich als Kenner ausweist: erst Sambar (Gemüsebrei mit einer speziellen Gewürzmischung), dann je nach Belieben zwei, drei, vier andere Gemüse. Immer bleibt ein Rest des Reises „jungfräulich“, bis zur Rasam (der scharfen Pfeffersuppe) oder dem Joghurt am Schluss. Diese Reihenfolge ist optimal für eine gute Verdauung. Wer nicht aufpasst und die Mischung zu flüssig hält, muss Reis nach mischen, damit die Mahlzeit nicht buchstäblich zwischen den Fingern zerrinnt.
Die Steigerung dabei ist es, in einem non-veg Restaurant etwa ein Hühnchenschenkel oder ein Stück Naan-Brot mit einer Hand zu zerlegen und zu essen, ganz hohe Kunst. Als Zeichen, dass man die Mahlzeit beendet hat, faltet man das Bananenablatt (zum Körper hin bedeutet: das Essen war besonders lecker).


Den Schluss bildet eine Süßigkeit und ein süßer Milchkaffee, der brühend heiß in einem Doppelgefäß aus Edelmetall serviert wird: Zur Kühlung gießt man den Kaffee aus dem steilen Becher in den flacheren – und wieder zurück. Kenner tun dies in einem hohen Bogen. Wer sich dabei nicht die Finger verbrennt, der ist in Tamil Nadu angekommen.
Für Kinder ist die Umstellung auf Fast Food bei uns unkompliziert. Einfach so essen wie einst Zuhause.

Toll, toll, da werden Erinnerungen wach. Danke. Ich mag Thali‘s weil man da von allem ein bisschen kriegt.
Curry-Sauce unter den Fingernägeln, muss man schon mögen … ist aber ein Riesen Erlebnis 😉
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