
„… die blaue Blume sehn ich mich zu erblicken“
Novalis (alias Friedrich von Hardenberg), 1772-1801
Auf dem Johannisfriedhof war sie nicht, auch nicht auf dem Schlachtfeld von 1806 bei Cospeda. Aber in der Innenstadt von Jena kamen wir der Quelle näher.






Am Wochenende des Semesterbeginns wirbelten die Studis durch die Straßen um den Jen Tower, auf der Suche nach Seminarräumen und WG-Plätzen. So muss es in Jena auch in 1790er Jahren ausgesehen haben – allerdings ohne den dominanten „Turm“, der Jenas heutige Stellung als Hightech-Industriestandort (Glas, Optik und alles drum herum) dokumentiert.

Die Französische Revolution wehte auch durch die deutschen Fürstentümer, im Niemandsland von Jena konnte sich der freie und befreite Geist voll entfalten. Seine Universität zog Forscher und Feingeister magisch an, die Studierenden kamen in den Genuss ungeahnter Ideen und lernten deren Vertreter kennen.


Jena war klein, eingezwängt in das Saale-Tal zwischen den Hochflächen Thüringens. Jeder kannte jeden, Schiller erhielt eine Professur und Goethe schöpfte bei seinen vielen Besuchen Ideen, die ihm das höfische und sonstige Leben in Weimar nicht bieten konnte.

Auf den Spuren jener Jenaer „Intellektuellentruppe“ um 1800, zu der neben Schiller (sein Gartenhaus hatten wir schon Jahre zuvor besucht) auch Fichte, die Schlegels und ihre Caroline, Schelling und insbesondere Novalis zählte, wie sich der junge Dichter Friedrich von Hardenberg nannte, irrten wir durch die geschäftige Stadt. Schließlich fanden wir in einem Hinterhof zwischen modernen Betonblöcken ein Gebäude, das den schönen Namen Romantikerhaus trägt. Es ist das ehemalige Wohnhaus des Philosophen Fichte. Hier kamen wir bei der Suche nach der blauen Blume schon weiter, jenem Sinnbild von ultimativer Verschmelzung von Ich und Natur.


Hinter der grünen Fassade ist auf drei Stockwerken das revolutionäre, freigeistige Leben der frühen Romantiker dokumentiert. Jena war dazu wie ein Brennglas, mit einer Wirkung quer durch die europäische Geisteswelt. Vieles von unserem Verständnis von Mensch („Ich“) und Umwelt („Natur“) entspringt dem Jena um 1800. Der Dichter dieser neuen Sicht von Natur- und Geisteswissenschaft war jener Novalis. Er fasste das Bestreben und die Suche nach dem Erlangen von Glück und Erfüllung im Bild der „blauen Blume“ zusammen, ein Bild von großer Wirkungsmacht. Später in der Romantik des 19. Jhs. tauchte sie wieder im geographischen Sinne auf. Alexander von Humboldt (der Bruder von Wilhelm), auch mit der Jenaer Gruppe bekannt, suchte sie gewissermaßen in Lateinamerika.
Aber in der Dichtung und Philosophie geht sie zurück auf Novalis. Ihm ist eine Klanginstallation im Romantikerhaus gewidmet.

Wir treffen als erste Besucher am Samstagmorgen auf Cornelia Mier, die sich für ein Lesekonzert am Nachmittag vorbereitet.

Dort soll mit Zitaten aus dem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ sowie Lautenmusik das Anliegen von Novalis dargestellt werden, „durch das poetische Wort der Welt Erneuerung und Frieden einzupflanzen“ (Zitat aus dem Einladungs-Flyer). Auf meine Frage zur Bedeutung der „Blauen Blume“ in der Romantik erläutert die engagierte Frau mit eindrucksvoller Gestik das Verständnis des jungen Dichters, das weit über eine geographische Suche nach der Blume hinaus geht. Ich bin so beeindruckt, dass ich im Foyer die Reclam-Ausgabe des Novalis-Romans erwerbe und mich gerade langsam hindurch arbeite.
„(Die blaue Blume) liegt mir unaufhörlich im Sinn und ich kann nichts anderes dichten und denken. … es ist als hätte ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinüber geschlummert. Denn in der Welt, in der ich sonst lebe, wer hätte da sich um Blumen gekümmert, und gar von einer seltsamen Leidenschaft für eine Blume habe ich niemals gehört“.
aus „Heinrich von Ofterdingen“, erstes Kapitel

Ich denke, wir haben alle Momente, wo wir glauben, die „blaue Blume“ greifen zu können. Aber nach Jena kamen 1806 Napoleon und Hegel. Dann kehrte die Restauration der alten Ordnung zurück, der Biedermeier zog ein und die Romantik wurde privat. Nationale Identität verwandelte sich in Nationalismus, Marx stellte Hegel auf die Füße, die industrielle Revolution verwandelte Mensch, Gesellschaft und Umwelt bis zur Unkenntlichkeit. Lenin, Stalin, Hitler oder Mao vernichteten vollends den Geist der frühen Romantik. Gerade, als wir glaubten, die blaue Blume bald pflücken zu können, erhebt das Unheil wieder sein Gesicht.

Weitere Quellen:
Podcast mit Andrea Wulf „Germans behaving badly“. The Rest is History, 15.9.2022
Book Review: Andrea Wulf: Magnificent Rebels. The first Romantics and the Discovery of the Self. New York Times online, 14.9.2022
Die Republik der Freien Geister. The European online, 24.10.2018
Peter Neumann: Jena 1800. Die Republik der Freien Geister. (Siedler) 2018