An Tagen wie heute schaut man auch deshalb zurück, um Lehren für die Zukunft abzuleiten. Denn das „Ende der Geschichte“ war die deutsche Einheit wohl nicht. Nicht für die DDR (oder die „neuen Länder“), nicht für die Sowjetunion und nicht für den West-Ost-Konflikt.
Am 3. Oktober 2022 stehen wir scheints wieder mitten in revolutionären Veränderungen. Diesmal treffen sie nicht nur die außenpolitischen Konstellationen in Europa, sondern buchstäblich jeden von uns. Hat schon die Pandemie unsere Lebensplanung auf den Kopf gestellt, der Krieg, die Energieknappheit und die Inflation drohen Zukunftsplanungen und Lebensentwürfe über den Haufen zu werfen.
Das war 1989 anders: Für mich liefen die Veränderungen in der DDR wie ein Film auf einem anderen Stern ab. Die Selbstverständlichkeit meiner/unserer damaligen Freiheiten war so unumstößlich, dass kaum vorstellbar war, dass es sie nicht längst überall auf der Welt gab.
Den Fall der Mauer erlebte ich bei einem Dinner mit anderen jungen Deutschen in unserer Nachbarschaft in Dhaka. Jener Donnerstagabend war unser Wochenendbeginn, da in Bangladesch Freitag der „Sonntag“ war. Eine junge Kollegin wurde spät am Abend in ihre Wohnung im Obergeschoss ans Telefon gerufen (der Zeitunterschied zu Deutschland war + 4 Stunden). Sie kam zu unserer Gruppe zum Abendessen zurück und war ganz aufgeregt. Ihr Bruder hatte aus Berlin angerufen: „Du glaubst gar nicht was hier los ist: die Mauer ist offen!“ hatte er gesagt. Es war natürlich das Thema für den Rest des Abends, aber ich konnte es gar nicht abwarten nach Hause zu kommen. Dort schaltete ich mein Kurzwellenradio an, die Deutsche Welle hatte auf Live-Reportagen aus Berlin geschaltet. Alles war kaum zu glauben.
Genau eine Woche später war ich auf einer Dienstreise in einem Hotel in London und konnte frühmorgens die ersten Live-Schaltungen nach Berlin sehen, bevor es in die Konferenz ging, zu der ich eingeladen war. Die Reporter standen auf Podesten an der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Auch das erschien mir noch surreal.
Bis dahin war die einschneidenste Erfahrung im persönlichen Bereich die Ölkrise im Oktober 1973. Zum ersten Mal wurden unsere „Freiheiten“ massiv eingeschränkt, zum Beispiel beim Autofahren. Das ist 49 Jahre her. Ich fand dazu einen Beitrag aus DW online (siehe Link oben) aus dem Jahr 2013. Aus heutiger Sicht ziemlich vollmundig wird dort erzählt, was für Lehren daraus für die Ölversorgung für Deutschland gezogen wurden. Von Gasknappheit und Gasversorgung als Mittel politischer Erpressung steht da nichts, es war ja auch ein Jahr vor 2014. Zumindest wurde jedem klar, dass billiges Öl aus dem Nahen Osten seinen Preis hat. Dass dies für billiges Gas sogar noch mehr gilt, jetzt wissen wir es.
Ich kann jeden verstehen, der heute wenig zuversichtlich in die Zukunft, gleich ob die nächsten Monate oder die nächsten Jahre schaut. Stünde ich noch mitten in Hypothekenzahlungen und Verpflichtungen für Familie und Kinder in Ausbildung, ich wäre mehr als beunruhigt.
Was mich trotz allem aber optimistisch macht ist die Erfahrung, dass unser politisches System und unsere pluralistischen Gesellschaft, samt einer innovativen Wirtschaft, die Fähigkeit haben, um aus dieser Krise Lehren zu ziehen und neue Richtungen einzuschlagen. Dabei kommt es zu Fehleinschätzungen oder zweifelhaften Entscheidungen, aber darüber kann man streiten. Dogmen fallen heute sowieso täglich, Politik fährt auf Sicht. Niemand ist auf die Konfrontation mit einem mittelalterlichen Weltbild vorbereitet, bei der auch rationalste Analysen keine Lösung anbieten können. Aber ich gebe zu, so richtig wohl ist mir beim Pfeiffen im Wald in diesen Herbsttagen auch nicht.
Danke Reiner schönes Wort zum Tag der Einheit!
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