Geliebter naher Osten

(Es ist wirklich eine Liebeserklärung). In den ersten Jahren nach der „Wende“ war uns alles östlich der Elbe so fremd wie Borneo oder die Emirate. Ostgrenze in meinem Leben war der Rhein. Städte wie London, Brüssel und Paris waren räumlich und kulturell viel näher als Berlin und Leipzig. Deren Perspektive zum 3. Oktober wird meist hinreichend dargestellt. Wie aber sieht es mit dem deutsch-deutschen Kennenlernen an den Grenzen im ländlichen Raum aus?

Zum Beispiel die Grenze von Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Sie zieht sich durch einen der fruchtbarsten Agrarräume Deutschlands, vom Harz durch die Bördelandschaft bis hoch in die Altmark.

Ich bin aus beruflichen Gründen in den Osten Niedersachsens gezogen. Wir haben daher seit gut 30 Jahren den Wandel in unserem Nachbar-Bundesland beobachten können. Mehr noch, in unserem Alltag treffen wir bei uns auf viele Mitbürger aus Sachsen-Anhalt, ob als Kolleginnen und Kollegen im Büro, im Handwerk, in den Läden der Großstädte oder in Autowerkstätten. Wo etwa bekäme man geraten: „Ihre Bremsen tun’s noch, das machen wir beim nächsten Mal mit dem Ölwechsel“ (in anderen Gegenden Deutschlands würde man sagen: „Jung, am besten den ganzen Motor raus!“). Sachsen-Anhalt nannte sich eine Zeit lang „Land der Frühaufsteher“, weil so viele pendelten, nach Leipzig oder in den Westen, zum Beispiel aus dem Nordharz nach Braunschweig oder aus den Börde-Landkreisen nach Wolfsburg.

Für mich ist Sachsen-Anhalt das kulturelle Herz Deutschlands (Verzeihung, liebe Thüringer) – und wir haben bei Weitem noch nicht alle seine Geheimnisse entdeckt. Sie lassen sich zum Glück für uns meist als Tagesausflüge erkunden. Von Stendal bis zu den Franke’schen Stiftungen in Halle, von Nebra und Memleben bis zum Grab Ottos des Großen in Magdeburg, von den Stationen Luthers in Mansfeld, Eisleben und Wittenberg bis zum Bauhaus in Dessau, die Straße der Romanik, die Dome in Halberstadt, Naumburg und Merseburg (die Aufzählung könnte noch über ein Dutzend Zeilen weitergehen: Köthen, Quedlinburg, Wernigerode, der Brocken, die Saale-Unstrut-Weinlandschaft …).

Von Johann J. Winckelmann über Martin Luther und Georg Friedrich Händel zu August Hermann Francke und Friedrich Nietzsche, in Sachsen-Anhalt Geborene haben Epochen geprägt. Magdeburg und Quedlinburg waren schon Macht- und kulturelle Zentren unter den Ottonen.

Meine erste Begegnung mit dem heutigen Sachsen-Anhalt war auf der Transitautobahn am damaligen Rasthof Börde bei Magdeburg. Das war im Sommer 1978. Wir – eine Gruppe Studenten aus Mainz – waren unterwegs nach Berlin und machten Rast. Es war schon lange nach Mittag und wir fragten, was es an Speisen noch gäbe: „Wir haben nur noch die Salzkartoffeln mit Schweinebraten und Erbsen“ meinte die überaus freundliche Dame, die uns bediente. Uns war es mehr als recht, aber in ihrer Stimme lag ein ehrliches, von Herzen kommendes Bedauern einer Gruppe hungriger junger Leute gegenüber.

Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt an der B 79

An der B79 Richtung Halberstadt in unserem Nachbarkreis (Autokennzeichen HBS, „halb Braunschweig“, wie uns ein Stadtführer dort erklärte) passiert man die ehemalige deutsch-deutsche Grenze. Ein Segment mit Grenzpfahl, Zäunen und einem Wachturm ist stehen geblieben und erinnert die vielen Pendler zwischen den beiden Kreisen an die Teilung. Kaum sonstwo macht sich der Wandel seit 1989 so sichtbar wie hier, unmittelbar vor und hinter der einstigen Grenze.

Im ersten Ort des jetzigen Harzkreises steht seit fast 30 Jahren ein Trabi, immer an der gleichen Stelle vorm Hoftor am Straßenrand. Er ist in Originalfarbe und zugelassen. Als wolle er den vorbeirauschenden SUVs sagen: Ich überlebe euch alle.

Meine Blogbeiträge zu Sachsen-Anhalt

Eine Lanze brechen – für Otto. Reiners.blog 21. Mai 2021

13. April 1204 – Spuren in Halberstadt. Reiners.blog 5. April 2018

Stendal, Winckelmann und sein Jahrhundert. Reiners.blog 13. November 2020

Reformation, ein sehr deutsches Ereignis. Reiners.blog 29. Oktober 2017

Huy: Einkehr in einer Klosterburg. Reiners.blog 3. Mai 2020

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