So hat es Nietzsche nicht formuliert, aber es wäre interessant, was er zu Putin und dessen Krieg zu sagen hätte. Friedrich Nietzsche ist bestimmt kein Denker, mit dem man sich mal kurz im Liegestuhl beschäftigt. Die Wurzeln seiner radikalen Brüche mit etabliertem Denken liegen auch in seiner Biographie, der Kindheit in Naumburg (Saale) wenn nicht schon in seinem Geburtsort Röcken im Südosten Sachsen-Anhalts.

Das winzige 600-Seelen-Dorf (Nietzsche hätte schon ein Problem mit „Seelen“) war Ziel unseres Ausflugs im Sommer 2020, kurz nach der Aufhebung der bundesweiten Corona-Auflagen. Wir parkten das Auto nahe der kleinen Dorfkirche, in der Nietzsches Vater eine Pfarrerstelle hatte. Dass wir damals am 120. Jahrestag der Beisetzung Nietzsches in Röcken waren (28.8.1900), erfuhren wir beim Besuch des kleinen Dokumentationszentrums an der Dorfkirche.

Zuvor hatten wir das elterliche Haus in Naumburg besucht, das Nietzsches Mutter nach dem frühen Tod des Vaters bezog und in dem der kleine Friedrich und seine Schwester Kind- und frühe Schulzeit verbrachten. Im Haus ist jetzt ein Museum eingerichtet, die Betreuerin begrüßte uns als die ersten Besucher dieses Sonntags. Sie gab uns eine kleine Einführung in die Ausstellung („Es gibt viel zu lesen“) und die Geschichte des Hauses. In den letzten Jahren seines Lebens wurde Nietzsche hier von seiner Schwester betreut. Wahrlich ein Kreislauf des Lebens, der für Nietzsche tatsächlich am Ort seiner Geburt endet.


Von Naumburg sind es 30 km und eine gute halbe Stunde Fahrt nach Lützen-Röcken. An der Seite der kleinen Kirche steht eine Figurengruppe. Zwei nackte Männer stehen zusammen mit dem Philosophen und seiner Mutter an einem Grabstein. Dieses im Jahr 2000 erstellt Denkmal für Nietzsche sei umstritten, sagt der aufgeweckte Mann mit Locken, Bart und Sandalen, der sich als Mitarbeiter des Fördervereins und aus Leipzig kommend vorstellt. Es sei nach einem Traum des Philosophen entworfen, in dem er sich nackt an seinem eigenen Grab stehen sah.

„Welchen Bezug haben Sie zu Nietzsche?“ fragt er uns. Wir erzählen ihm von einer Seminararbeit zu „Gott ist tot“ beim Grundstudium in Mainz. „Und dann war wohl Nietzsche tot“, meint er lapidar, was uns zum Lachen brachte. Er führt uns um die Kirche, zum Grabstein Nietzsches und seiner Schwester auf der anderen Seite.


Das Innere der kleinen Kirche mit dicken Mauern und harten Bänken, auf denen die Gemeinde schon zu Nietzsches Zeiten saß, versetzt den Besucher ins 19. Jahrhundert zurück. Von der Kanzel über dem Alter lauschte der kleine Nietzsche den Predigten seines Vaters. Dessen Tod durch eine Gehirnerkrankung hat den 5-Jährigen extrem getroffen.
Auf einer Bank vor dem kleinen Museum warten wir, bis die Corona-Regeln uns den Zutritt erlauben. Vielleicht 20 Besucher hat es an diesem Sonntag nach Röcken geführt. Gegenüber im Geburtshaus des Philosophen bereitet man Kaffee und Kuchen vor. Die derzeitigen Bewohner des Pfarrhauses heißen Kant. Wer in die Kirche will, fände ein Schild „Der Schlüssel zu Nietzsche liegt bei Kant“, meint unser Freund schmunzelnd.
Um 15 Uhr gibt es einen Vortrag zum Thema „Das Konzept von Abschied bei Nietzsche“ in der Kirche. Eine junge Doktorandin aus Leipzig spricht vorm Altar von den Brüchen und Trennungen, die Nietzsche in seinem Leben ertragen musste. Ihr Doktorvater, der auf einem Campingstuhl neben dem Podium sitzt, rezitiert zwischendurch Originalsätze von Nietzsche, meist aus Briefen an Freunde, auch solche, die er nie abschickte. Überhaupt, so die Referentin, sei die Philosophie Nietzsches eine des Abschiednehmens. Nur mit radikalen Brüchen von allem konventionellen Denken sei das Neue zu erschaffen. Die Kirche ist gut gefüllt. Es sollte noch einen kleinen Empfang danach im Pfarrgarten geben, mit Kuchen und Wein. Aber es regnet und wir müssen zurück nach Wolfenbüttel.
Es ist kaum vorstellbar, dass ein Philosoph von der Bedeutung eines Friedrich Nietzsche an den Mauern einer kleinen Dorfkirche seine Ruhestätte gefunden hat. Während in Leipzig Amerikaner auf den Spuren Bachs wandeln oder in Trier Chinesen auf dem Schreibtisch von Karl Marx posieren, wissen Nietzsche-Jünger vielleicht nicht einmal, wo Röcken liegt. Dabei hat er die Nazis und neuen Rechten ebenso beeinflusst, wie die Hippies der 1970er Jahre in Kalifornien oder die verbliebenen Existentialisten (gibt es noch Nihilisten?) von heute. Wäre Putin für ihn ein Übermensch, mit dem Recht des Stärkeren nach innen und außen? Mit Waffengewalt gegen eine dekadente und mithin entbehrliche Werteordnung? Und welche philosophische Bedeutung hätte dann der Widerstand von der Ukraine?
„Lieber Friedrich“, so würde wohl mein Brief an ihn beginnen, „seit Deiner Zeit haben wir uns gesellschaftlich und politisch weiter entwickelt. Zwei Weltkriege haben tatsächlich die alte Ordnung ausradiert, die Opfer dafür waren unermesslich. Heute ist es die daraus entstandene demokratische Wertegemeinschaft, die jedem selbst ernannten ‚Übermenschen‘ und Imperialisten zeigt, was Stärke ist. Glaub mir, wir ziehen uns dafür in diesem Winter gerne warm an. Und das sollten auch die tun, die auf unsere Schwäche setzen!“
Webseite des Fördervereins Röcken und der Nietzsche Gedenkstätte
Nietzsche reicht bis Indonesien. Artikel in der Jakarta Post online, 25.92022
Danke, again what learned
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