Halberstadt: Konzertticket für 2640

Wer hat schon ein Gefühl für Zeit? Für den einen bleibt sie stehen, für den anderen rast sie nur so vorbei. Und erst das Jahr 2640, in 618 Jahren? Soll ich schon ein Ticket für ein Orgelkonzert kaufen, das meine Ur x 18-Enkel genießen können? In Halberstadt in Sachsen-Anhalt geht das.

Warum genau 2640? Dafür müssen wir um 661 Jahre zurück gehen. 1361 wurde im halbfertigen Halberstädter Dom die erste Großorgel eingeweiht. 639 Jahre später, im Jahr 2000, nehmen engagierte Halberstädter das zum Anlass, ein Orgelkonzert des Avantgarde-Komponisten John Cage (1912-1992) aufzuführen, mit dem Titel Organ²ASLSP. Letzteres ist die Abkürzung für as slow as possible. In Halberstadt entschied man sich, das Konzert ab 2001 über exakt 639 Jahre lang in der Zukunft bis zum letzten Ton im Jahr 2640 aufzuführen. Very slow, indeed! Cage hätte sich gefreut.

Als Ort bot sich das leerstehende St. Burchardi Kloster an, die Klosterkirche ungenutzt vor den Toren der Altstadt. Von wegen Zeitverständnis: Die Kirche stand dort im Jahr 1361 schon fast 200 Jahre, ab 1208 wurde sie von den Zisterzienserinnen genutzt. Warum sollten diese Mauern nicht noch weitere 639 Jahre überdauern, wie es das Orgelkonzert vorschreibt?

Versetzen wir uns einfach zurück. Wir sind am 11. September 1361 (übrigens ein Samstag). Wie immer abends versammeln sich die Nonnen in der Klosterkirche zur Vesper. Gloria patri et filio et spiritui sancto mögen sie gesungen haben (das und in Latein singen Zisterzienser heute noch). Ob die frommen Zisterzienserinnen sich vorstellen konnten, dass ihre Kirche im Jahr 2022 immer noch steht, aber ihr Orden eine Instagram-Seite hat und die Vesper über YouTube live streamed? Es ist die gleiche Frage, ob wir uns vorstellen können, wie Halberstadt, die Region und die Welt im Jahr 2640 aussehen.

Meine Gedanken gehen zurück ins Hochmittelalter, als ich durch eben jene Klosterkirche wandle. Der frühere Altarraum ist mit schwarzem Schotter ausgelegt. Die kahlen Mauern, die schmucklose Halle, das Licht durch die Fenster müssen ähnlich gewesen sein, vielleicht war es sogar ein warmer Spätsommertag wie bei unserem Besuch. Es ist Tag des offenen Denkmals.

Mitten im einstigen Altarraum steht ein futuristisches Konstrukt, das nur entfernt an eine Orgel erinnert. Es verströmt einen brummenden Dauerton, ich interpretiere das als die extreme Zeitlupe eines einzigen Tons aus dem Konzert. 22 Jahre sind seit Beginn des Konzerts (es begann 2000 mit einer Pause) schon vergangen, der nächste Tonwechsel ist für Februar 2024 angekündigt.

Bis der letzte Ton erschallt ist, sind wir im Jahr 2640. Wer da im September noch nichts vorhat, sollte sich den Termin vormerken (der 11.9.2640 eignet sich, er ist ein Freitag). Dann wird in St. Burchardi ein Orgelkonzert aufgeführt, dessen erster Ton 639 Jahre zuvor, im September 2001 erklang. Nimmt man den Blick zurück als Maßstab dann werden die Mauern der Klosterkirche immer noch stehen. Gebaut für die Ewigkeit, Pest, Dreißigjähriger Krieg, Weltkriege konnten ihr bislang nichts anhaben.

John Cage und sein revolutionäres Verständnis von Musik und Zeit wird gerade wieder entdeckt, so jüngst in der New York Times (s.)., „in einer Zeit voller kultureller Stagnation“, ja Langeweile. Cage und das mittelalterliche Halberstadt passen bestens zusammen.

Dom zu Halberstadt mit Orgel, heute

Kann ich mir vorstellen, wie die Welt aussieht, wenn das Konzert von John Cage fertig ist? Wohl so wenig wie es die Nonnen im Jahr 1361 für unsere Gegenwart konnten. Vielleicht kommt der Hollywood-Film „Elysium“ dem am Nächsten (obwohl er schon im Jahr 2154 spielt): Die Privilegierten der Menschheit leben auf einer riesigen Station im Erdorbit, unten auf dem Planeten schuften die Massen unter unsäglichen Bedingungen. Für die Authentizität des Konzertereignisses würde wohl eine Sauerstoffglocke samt klimatisierter Sicherheitszone um Halberstadt gelegt, damit die geladene Elite dem Konzert ungestört beiwohnen. Aber man kann sicher von der Station „Elysium“ auch virtuell ins Burchardi-Kloster gebeamt werden. Irgendwie wird das Jahr 2640 der Gesellschaft des Mittelalters stärker ähneln, als uns heute liebt erscheint.

Zurück im Sonnenlicht des Klosterhofs. Haufen von Pflastersteinen und Baugeräte bestimmen das Bild, der Hof wird saniert. Alles muss schön sein, wenn die Konzertbesucher in 618 Jahren anreisen.

Cage-Orgel Halberstadt bei Wikipedia

Zum Kloster St. Burchardi bei Wikipedia

Webseite des John-Cage-Projekts Halberstadt (aslsp.org)

Bericht zum Cage-Projekt in der Süddeutschen vom September 2001

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