Du suchst neue Challenges? Dich langweilen die üblichen Party-Städte? London, Barcelona, Amsterdam, New York, ja sogar Dubai (um Alles in der Welt!). Dann probier’s mal mit Calcutta. Es wird Dich für immer verändern.

Stell Dir einfach vor, Deine Seele wandert schon zu Lebzeiten. Lass sie in den Körper eines Gleichaltrigen fahren, der morgens von Howrah ins Zentrum pendelt. Du könntest vom Bahnhof einen Bus oder ein Taxi über die Howrah Bridge nehmen, aber dann bleibst Du wohl im Verkehr stecken. Du könntest die neue U-Bahnlinie 2 nehmen, die Dich in Minuten unter dem Hooghly hindurch bis Esplanade bringt, von wo es noch eine Station bis Park Street ist. Aber aufregender ist es, über den Vorplatz ans Flussufer zu gehen, von wo die Fähren Richtung Armenian Ghat ablegen.




Jenseits angekommen, musst Du keine Rickshaw nehmen, obwohl der „Fahrer“, der Dich auf dem Gefährt zieht, für den Job dankbar wäre. Du kannst einfach die Straßen entlang spazieren.
Vielleicht stolperst Du über eine Gruppe Männer, die aus Flussschlamm lebensgroße Figuren formen: Tiere und darauf Menschenkörper mit mehreren Armen – Vorbereitung für das Durga-Fest.

Überall schwimmst Du zwischen Menschen, auf dem Weg zur Arbeit oder um Dich herum mitten in der Arbeit. Trotz Hitze und Schwüle, Calcutta, oder Kolkata wie es heute heißt, brummt.
Unterwegs magst Du Lust auf einen Snack samt Tee haben, gibt es alle Dutzend Meter. Von einem Stück Zeitung isst Du Chapati oder Parotha mit Gemüsefüllung, den Tee erhältst Du in einem Einwegtöpfchen aus Ton.


Dein Büro liegt in Chowringhee, vom Fenster hast Du einen Blick auf den Maidan, die grüne Lunge der Metropole. Unterm Fenster hupt es in allen Tonvariationen, ohne Unterbrechung.

In der Mittagspause spazierst Du Richtung Victoria Memorial, die Chowringhee überquerst Du stoisch im fließenden Verkehr – machen alle. Zebrastreifen und Ampeln sind nur symbolisch.


Aber in der Park Street geht es ziviler zu. Hier hat die Polizei eine Station schon seit Rudyard Kiplings Zeiten. Es gibt einen Bürgersteig, Boutiquen und gepflegte Restaurants.



Wer schnell was essen will, tut dies mit Kollegen am Fast Food-Stand.


Am Ende der Park Street liegt ein verwunschener Friedhof, der schon seit 150 Jahren keine frischen Gräber mehr gesehen hat. Es ist eine Totenstadt samt Dschungel, mitten im Großstadt-Dschungel.



Die Park Street trifft hier auf die frühere Lower Circular Road, die nordwärts zum Sealdah Bahnhof führt, dem zweiten riesigen Bahnhof in Calcutta. Hier fahren noch Straßenbahnen, die locker 60 und mehr Jahre auf dem Buckel haben. Dir mögen ein paar Schwestern der Missionaries of Charity begegnen, deren HQ ist nur wenig weiter die Straße hoch.

Zurück zur Arbeit, den Rest des Tages hinter Dich bringen und dann geht es Richtung Esplanade, vorbei am Great Eastern Hotel, dessen Bar Typen wie Kipling und Twain gesehen hat, zum BBD Bagh (früher Dalhousie Square). Hier ist Kolkata im kolonialen Zeitalter stehen geblieben: Writers Building (in dem die Landesregierung von Westbengalen residiert), der Dom des Hauptpostamtes und viele schön restaurierte (und noch zu restaurierende) Gebäude.
Eben war es noch so schwül, dass Dein Hemd klitschnass an Dir klebte, jetzt kommt ein Monsunregen samt Gewitter runter, der Dich vollends nass macht. In Calcutta stört das Niemanden. Du flüchtest in die St. John’s Church, die in einem Park liegt und Dir ein wenig Besinnung ermöglicht.




Dir wäre nach einem Orgelkonzert, aber dafür spielt eine Dame mit chinesischem Background Choräle auf dem Klavier, Deine Seele baumelt. Am liebsten würdest Du einen Darjeeling-Tee in der Sakristei einnehmen.

Der Regenguss ist vorbei und Du machst Dich auf zum Bahnhof. Diesmal mit dem Taxi. Das bleibt zwar trotz tollkühnem Fahrer im Verkehr stecken, aber das Treiben am Straßenrand ist wie ein Film, der Dich ablenkt.

Morgen Abend könntest Du Dir Zeit für ein oder zwei Kingfisher-Bier in der Bar des Park Hotels nehmen, denkst Du. Es ist ein Sinkhole für Ausgepowerte in Calcutta, die Live-Musik verdrängt Dir das Dauerhupen aus dem Kopf.

Heute genießt Du den Sonnenuntergang am Hooghly, die Fähren kommen und gehen. Der Bahnhof erstrahlt im Abendlicht, die Fernzüge nach Delhi, Bombay und alle Richtungen nach West und Süd werden auf den Gleisen bereit gestellt. Fahrgäste lassen ihr Gepäck auf dem Kopf von rot berockten Trägern an den designierten Liegewagen bringen.

Von der Terrasse des First Class Waiting Rooms schaust Du auf Fluss und Brücke, Deine Kleidung ist mehrmals am Tag durchnässt und wieder getrocknet worden. Macht nichts, Deine Haut ist sanft und glatt wie nach einem Saunabesuch.
Probier’s mal mit Calcutta, die Stadt der zehn Millionen Alltags-Helden. Frei nach Frank Sinatra: „If you make it there, you make it everywhere!“
Meine Blog-Beiträge zu Calcutta:
Ein Trump Tower für Calcutta? Reiners.blog, 22.2.2018
Kipling in Calcutta – eine literarische Spurensuche. Reiners.blog, 16.9.2017
Es scheint sich nichts geändert zu haben, seit ich 1992 da war. Nur noch mehr Menschen. Den Friedhof habe ich auch entdeckt1 Es war einHort der Ruhe im Großstadtlärm.
LG
Ulrike
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Vielen Dank für den Kommentar, Ulrike. Ja, vieles bleibt konstant – in bestem Sinne, aber vieles ändert sich auch. Als eine Stadt im Niedergang versteht sich Calcutta heute nicht mehr.
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Danke für die einfühlsame Beschreibung. Man glaubt, das eigene Hemd wäre nass 😁
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Dank auch Dir, Marco. Immer wenn es jetzt im Sommer schwül-heiß und Dein Hemd nass wird, denk an die Calcutta Challenge 🙂 – für die Leute dort sind unsere „unerträglich heißen“ Tage eine kühle Brise.
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Geht mir ähnlich. Nach dem Tag bin ich nun echt platt … und bestelle noch ein Kingfisher 😉
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