Wer Recht und Gerechtigkeit in Zeiten von Krieg und Gewalt sucht, für den gibt es einen Ort am Oude Waalsdorperweg in Den Haag. Hier residiert der Internationale Strafgerichtshof in einem Komplex von Würfeln und Quadern mit viel Glas. Seine Sitzungen sind öffentlich.

Wir hatten in den vergangenen Tagen zweimal die Gelegenheit, an den Verhandlungen des Gerichts teilzunehmen. Besucher sind willkommen, eine Anmeldung nicht nötig. Wir passierten diverse Sicherheitsschleusen und saßen dann hinter Glas auf der Besuchertribüne. Pünktlich um 9.30 Uhr beginnen die Verhandlungen, ein Vorhang öffnet sich, wie erheben uns, als die drei Richter in blauen Roben im Verhandlungsraum Platz nehmen. Zur Linken die Ankläger, zur Rechten die Beschuldigten und ihre Pflichtverteidiger.

Schon vor 2300 Jahren schreibt der chinesischer Philosoph Lü Buwei: „Durch Gerechtigkeit kommt die Welt zu Frieden.“ Der Internationale Strafgerichtshof arbeitet genau daran. Verbrecher machen sich in der Regel keine Gedanken darüber, welche Folgen ihre Taten für sie selbst haben können. Sie wähnen sich vor Verfolgung sicher, weil sie glauben zu gewinnen. Aber wer als staatlicher Akteur mit dem Gedanken spielt, politische Ziele mit Gewalt durchzusetzen – sei es gegen Gegner im Land oder durch einen Angriff jenseits der eigenen Grenzen, der sollte sich vorher den Text des Rom Statuts zu Gemüte führen.
1998 verabschiedet und seit 2002 in Kraft bildet das von 120 Staaten ratifizierte Statut die Grundlage für den International Criminal Court (ICC). Es listet in unmissverständlicher Sprache auf, was ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit konstituiert – da bleibt kein Raum für Interpretationen.
Alle Verhandlungen werden auf der Webseite des Gerichts angekündigt. Derzeit werden 31 Fälle verhandelt. Bei unserem Besuch am Montag und Dienstag (24./25.4.23) lag der Fall Yekatom und Ngaissona aus der Zentralafrikanischen Republik vor dem Straftribunal. Vorgeworfen werden ihnen unter anderem folgende zwischen 2013 und 2014 begangenen Verbrechen:
Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Mord, Deportation oder Zwangsumsiedlung, Inhaftierung oder anderer schwerer Entzug der körperlichen Freiheit, Folter … und andere unmenschliche Handlungen.
Kriegsverbrechen: Mord, Folter und grausame Behandlung, Verstümmelung, vorsätzlicher Angriff auf die Zivilbevölkerung, vorsätzlicher Angriff auf Gebäude, die der Religion gewidmet sind, Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren und deren Einsatz zur aktiven Teilnahme an Feindseligkeiten, Vertreibung der Zivilbevölkerung und Zerstörung des Eigentums des Gegners (zitiert von der ICC-Webseite, aus dem Englischen übersetzt).

Hinter dieser Aufzählung verbergen sich jene ungeheuerlichen Taten, von denen wir zuweilen Bilder in unseren Medien sehen, eingestreut zwischen Wirtschaft und Kultur.
Der Prozess läuft seit zwei Jahren vor der 5. Strafkammer unter dem vorsitzenden Richter Bertram Schmitt (Deutschland). Die beiden Beschuldigten wurden Ende 2018 verhaftet und sind seit Anfang 2019 in Untersuchungshaft des ICC. Es sind die letzten Tage der Anklageerhebung. Kurzfristig können beide Seiten „Private Session“ beantragen, z.B. wenn Zeugenschutz es erfordert. Der Audio in den Zuschauerraum wird dann abgeschaltet.
Wir sehen aber, wie der Staatsanwalt in seinem Aktenordner blättert, mit Beweisstücken (etwa Flugblätter oder Zeitungsnotizen), die er zuweilen hochhält. An beiden Verhandlungstagen ist ein Zeuge aus Zentralafrika zugeschaltet, sein Videolink wird nur verpixelt in den Zuschauerraum übertragen. Wie die Kinder rekrutiert wurden, wird er gefragt. Nach Augenschein, antwortet der Zeuge. Wie alt die Jüngsten gewesen seien? Zwischen 9 und 14 Jahren, bestätigt der Zeuge 8000 km entfernt.
Nach einer weiteren „Private Session“ werden dem Zeugen Videoclips von einer Gruppe Männern und Jugendlichen gezeigt (auch in den Zuschauerraum übertragen), er soll Personen identifizieren. Das könne er aufgrund der undeutlichen Bilder nicht, sagt er.
Der jüngere der beiden Angeklagten sitzt in eine rote Decke gehüllt auf der (von uns aus) rechten Seite des Gerichtssaals. Nur selten spricht er mit einer der Verteidigerinnen. Man ahnt wie kompliziert solche Prozesse sind. Viel Technik ist im Gerichtssaal, Computerbildschirme auf allen Plätzen, Simultanübersetzungen, Videolinks in alle Welt, Kameras überall im Gerichtssaal.
Aber so wird Gerechtigkeit hergestellt, auf einer internationalen und transparenten Plattform. Auch wenn die Opfer davon meist nichts wissen, weil sie irgendwo verschollen sind. Es ist kein Gericht von Weiß gegen Schwarz, von Nord gegen Süd oder West gegen Ost. Die beisitzenden Richter heute sind aus Ungarn und Südkorea, die Hälfte der Anwälte und Gerichtsangestellten ist aus Schwarzafrika.
Der International Criminal Court verdient Hochachtung für seine Arbeit und braucht die Unterstützung der globalen Öffentlichkeit. Wer in Den Haag etwas Zeit hat, sollte eine der Verhandlungen besuchen. Es könnten gut und gerne noch einige dort auf der Anklagebank sitzen, sei es aus Washington oder Moskau. Für das Verfahren würde ich selbst im Regen und eisigem Wind gern lange Schlange stehen.
Gerade eben gefunden: Sudan crisis: War crimes suspect free amid chaos. BBC News 26.4.2023
Nachtrag 4.5.23: Der ukrainische Präsident W. Zelenskiy hat am 3.5. den ICC besucht. THE GUARDIAN online, 4.5.23