Rote Linie: ins Meer verschoben

Jenseits der roten Linie beginnt in Malacca eine andere Welt. Sie ist auf gewaltigen Landaufschüttungen vor der Küste neugeschaffen. Die rote Linie oben in der Karte markiert etwa den Küstenverlauf, wie er bei meinem Forschungsaufenthalt 1979 bestand. Malacca war ein beschauliches Städtchen von etwa 70.000 Einwohnern. In der Flussmündung legten hölzerne Lastkähne an und wurden von Hand entladen. Am Stadtrand begannen die Reisfelder, in denen mit Wasserbüffeln gepflügt wurde. Die Innenstadt war geprägt von chinesischen Suppenküchen und einem morbiden Charme, internationale Touristen Fehlanzeige. Zwei Gegenüberstellungen mögen dies unten ein wenig dokumentieren.

Heute hat die Stadt so viele Einwohner wie Hannover und eine Skyline um die alte Stadt herum (Stadtgeographen nennen das „Altstadtkrater“) wie Frankfurt. Das ist aber erst der Anfang. Wenn die bauliche Gigantomanie weitergeht, wird Malacca mit Dubai oder Shanghai wetteifern. Es soll zu einem touristischen und „residential hub“ hier auf halber Strecke zwischen Singapur und Kuala Lumpur werden.

Malacca: Megaprojekte auf Sand. Reiners.blog, 19.10.2017

Malacca: Treffpunkt Geographer Cafe. Reiners.blog, 15.4.2021

Was allein in den vergangenen 20 Jahren gewachsen ist, zeigt der Vergleich zweier Google Earth-Bilder.

Wer steckt dahinter? Ganz einfach: chinesisches Kapital aus Singapur und der Volksrepublik. Singapur ist ein reicher Inselstaat (siehe den Hollywood-Film Crazy Rich Asians) mit wenig Platz zur räumlichen Expansion. Auch dort gibt es gewaltige Aufschüttungsprojekte wie etwa die Erweiterung des Flughafens Changi. Zudem ist Singapur ein globales Finanzzentrum, wo Geld nach Anlagen sucht. Immobilien gelten immer noch als krisensicher.

Wohnen ist in Singapur sehr teuer und die Reichen aus beiden benachbarten Ländern suchen nach Alternativen für Freizeit und Ruhestand. Malacca bietet sich aus zwei Gründen an: Es liegt nur ein paar Fahrstunden von den beiden Metropolen entfernt und es hat „historischen Charme“.

Mehr noch, historisch war es vor drei-, vier- und fünfhundert Jahren genau das, was Singapur heute ist: ein Welthandelszentrum in bester strategischer Lage zwischen Indien und China. Der Aufstieg Malaccas ab 1400 ist sogar ohne die Unterstützung Ming-Chinas gar nicht denkbar, es wurde zu einem Außenposten des Ming-Reiches, das nach Anerkennung weltweit, vor allem aber nach Handelskontakten bis jenseits des Arabischen Meeres suchte (ja, der Vergleich mit heute liegt auf der Hand).

Cheng Ho und Geopolitik im Südchinesischen Meer. Reiners.blog, 11.8.2020

Seit 500 Jahren leben Chinesen in Malacca und haben das Gesicht der Stadt geprägt. Noch heute sind 25 % der 500.000 Einwohner Chinesen. Umgekehrt wurde die Welt Südostasiens auch von Malacca aus beeinflusst: Mit dem Drehpunkt des Handels zwischen Orient und Okzident kamen allerlei kulturelle Einflüsse. Der Islam verbreitet sich im insularen Südostasien über die Handelswege, indische Händler und Zuwanderer knüpften an die hinduistische Geschichte auf Java und Sumatra an. Malacca wurde und ist ein Brennpunkt von Handel, Kulturen, Macht und Wohlstand.

Das sieht man der Altstadt heute immer noch an. Buddhistische Tempel, Moscheen, Kirchen verschiedener Konfessionen und Hindutempel liegen auf engstem Raum zusammen. Und es ist ausgerechnet der Tourismus (und der Welterbe-Status seit 2008), der die Altstadt „gerettet“ hat, da ihr sonst das Schicksal von Chinatown in Singapur zugestoßen wäre.

Ich kenne jede Straße und viele Cafes und Läden rund um die Jonker Street. Gestern konnte ich nicht widerstehen und habe in einem kauzigen kleinen Laden, in dem Gebrauchsporzellan aus der Ming-Zeit (1400-1644) hinter Glasscheiben in verstaubten Regalen lag, ein Stück aus jener Zeit und eine Opium-Dose aus Porzellan zu erstanden, die aus der Zeit des Opiumkrieges in den 1840er Jahren stammte.

Der Malacca River trennte die Händlerstadt von den Residenzen der Sultane und später der Portugiesen, Holländer und Briten. Er wurde saniert und ist jetzt auf beiden Ufern von River Walks begehbar. Die Müllabfuhr der Restaurants am Ufer erfolgt per Boot!

Wie anders ist die noch halbfertige Welt auf dem gewonnenen Land: In Planung sind Kongresszentren, Kreuzfahrt-Terminals von gigantischem Ausmaß, Gated Communities, Hotels und Apartments. Einiges ist fertig (wenngleich leerstehend), anderes im Bau, das meiste noch in Planung. Groß involviert sind Baufirmen aus China, mit Arbeitern zum Teil aus Bangladesh. Vierspurige Boulevards verbinden die Stadt mit den Neubaugebieten und vom Land her füllen sich die Projekte der 2000er Jahre mit kommerziellem Leben. Wer aber all die Läden mieten, in ihnen kaufen oder in den Apartments wohnen soll, ist noch offen.

Die Projekte sind beeindruckend und einschüchternd zugleich – abgesehen von den ökologischen und ökonomischen Risiken. Da sie nun einmal stehen, kann man nur wünschen, dass sie auch genutzt werden. Nichts wäre schlimmer als im tropischen Klima verrottende Betonklötze vor einer der schönsten alten Städte in Südostasien.

Weiterführende Quelle und Links:

Malacca City bei Wikipedia (Englisch)

3 Gedanken zu “Rote Linie: ins Meer verschoben

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