Die Szene spielt vor einiger Zeit im Schwimmbad: Ein Gewitter zog auf, ein Mann meines Alters stieg zögerlich in das Becken. „Was meinst Du,“ fragte er den Kumpel der bereits im Wasser war, „geht es bald los?“ „Ach, haste Angst um Dein bisschen Leben?“ antwortete der lakonisch. Ein Spruch, der mir in diesen Monaten öfters einfällt. Klar, man denkt zuerst an die Ukraine, aber mich erinnert der Spruch auch an ein Land, in dem für Millionen seit jeher fast jeder Tag ein existentielles Risiko ist.

Im Durchschnitt zweimal im Leben, habe ich gelesen, verliert jemand in Bangladesh sein Hab und Gut. Während das Land in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte in Basis-Gesundheitsfürsorge gemacht hat, bleibt seine Geographie die größte Bedrohung. Bei uns ist alles für Leib und Leben versicherbar – die Gebäudeversicherung flatterte gerade ins Haus und ich habe sie um Elementarschäden erweitert, die Menschen im größten Delta der Erde sind weitgehend auf sich gestellt.


Ich war häufig auf UN-Missionen im Land unterwegs, so auch in einer Fact finding-Mission nach der Jahrhundertüberschwemmung im Sommer 1988. Aber solche Überschwemmungen gibt es bis heute, und sie mögen eher häufiger werden.
Eines der Dörfer, welches wir mit mehreren Flussquerungen per Fähren erreichten, lag unweit des Brahmaputra (in Bangladesh heißt er Jamuna). Der Fluss ist im Sommer so breit, dass man das andere Ufer nicht ausmachen kann. Das ist normal, da der Monsun gewaltige Wassermassen aus Indien durchs Land fließen lässt. Die sind schmutzig braun, weil sie voller Sedimente und Schwebstoffe sind. Sie sind ein Gewinn für Landwirtschaft am Ufer, da sie wichtige Nährstoffe für Reis und Gemüse bringen.

Der Boden in Bangladesh ist quer durchs Land immens fruchtbar, drei Ernten im Jahr sind möglich. Es ist in diesem Sinn ein reiches Land, aber auch reich an Menschen. Außer den Metropolen Dhaka und Chittagong ist es ein Land von Dörfern und kleinen Städten mit an die 150 Millionen Menschen. Bei gleicher Bevölkerungsdichte wie Bangladesh hätte Deutschland 320 Millionen Einwohner.
Aber es liegt in einer Region auf dem Globus, die mehr als andere gefährdet ist. Zyklone ziehen von der Küste her übers Land und Überschwemmungen nach dem Monsun bringen die Flüsse aus Indien über die Grenze. Darauf hat der Staat als „Unterlieger“ keinen Einfluss. Drei Viertel des Landes liegen weniger als ein Dutzend Meter über dem Meeresspiegel. Das ganze Land ist fragiles Schwemmland, hier wird abgetragen, dort wird angeschwemmt.
Im Sommer 1988, nach dem Hochwasser, nagt die Strömung des Brahmaputra am Ufer und bricht große Stücke Boden ab. Irgendwo weiter flussabwärts lagert er es ab. Dort entstehen Chars, so nennt man die Flussinseln. Wer sich traut, kann dort siedeln und anbauen – nur ein paar Zentimeter über Wasserspiegel.


Aber das abgetragene Land ist futsch, bald auch das ganze Dorf. Wer vom Feldbau lebt, weiß nicht wohin er ziehen soll. Es gibt Hundertausende interner „Umweltflüchtlinge“, die gezwungen sind, auf dem Char-Land zu leben. Alles Land wird genutzt, jeder Quadratmeter Boden ist Gold wert.


Vielen Menschen bleibt nur die Hoffnung, dass Unheil an ihnen vorbei geht. Viele halten ein Boot bereit, damit sich die Familien in Sicherheit bringen können, wenn das Wasser steigt. 1988 tat es das bei heiterem Sonnenschein, wie aus dem Nichts. Wenn übers Radio Warnungen kommen, sind sie vorbereitet. Ansonsten arbeiten sie weiter und geben nicht auf. Auf den Bescheid zu meiner Gebäudeversicherung schaue ich immer mit anderen Augen, wenn ich an Bangladesh denke.

P.S.: Ich habe einige Projekte zum Thema „Mensch und Umwelt“ Ende der 1980er Jahre betreut. Die Fotos stammen aus jener Zeit.
320 Millionen Deutsche auf schwammigem Boden. Oh, je. Ich mag es mir nicht vorstellen.
Beeindruckender Bericht, danke
LikeGefällt 1 Person